Berlinonline - Filmkritik zu "Spider" (2004)

Hier findet ihr alte Interviews und Berichte von Ralph.

Berlinonline - Filmkritik zu "Spider" (2004)

Beitragvon Dolarhyde » 13.02.2006, 07:58

ziemlich gut geschrieben, wie ich finde :thumb:

Gefangen in der Vergangenheit

David Cronenbergs Film "Spider" ist eine logische Studie über den Magnetismus einer schwierigen Kindheit

Ein Zug fährt in die Waterloo Station in London ein. Die Ankommenden tasten sich die Stufen von den Waggons zum sicheren Boden hinunter und streben der Kamera entgegen zum Ausgang. Der Menschenstrom ist vorbeigezogen, der Bahnsteig wieder leer. Dann wird eine der hinteren Waggontüren noch einmal geöffnet. Ein gebeugter Mann lässt sich vorsichtig hinab. Einen Koffer in der Hand zieht er unablässig vor sich hin brummelnd durch die Straßen. Ein Freak, ein Gestörter, ein bezugslos vor sich hin brabbelnder Mensch, die Augen offen für nichts - einer wie man ihn täglich in den Straßen der Großstadt sieht.

Dennis Gleg (Ralph Fiennes), genannt Spider, kommt aus einer psychiatrischen Anstalt. Der Staat hat ihm übergangsweise die Männerpension der Mrs. Wilkinson zugewiesen, die er nun vom Bahnhof aus sucht. Mrs. Wilkinson führt eine Art Erziehungsheim für ältere Männer, eine düstere Anstalt, die mit allen Tricks despotischer Mütterlichkeit (überzeugend einschüchternd: Lynn Redgrave) regiert wird. Gleg war seit seinem zehnten Geburtstag in psychiatrischen Anstalten; er verlebt den Großteil seines Tages noch immer in der traumatischen Kindheit. Entsprechend reduziert ist die Gegenwart auf der Leinwand. Spider (Ralph Fiennes kann auf geniale Weise nach innen starren) irrt durch ein menschen- und dingleeres London, durch ein urbanes Stilleben aus wenigen Farben und noch weniger Tönen. Spiders Desinteresse hat das Gros der Menschen, die hier herumwuseln müssten, schlicht ausgeblendet. Nicht er ist abwesend, sondern seine Gefangenschaft in der Vergangenheit macht die Dinge abwesend. Sie verwandelt die Straße in eine Bühne der Erinnerung. Spider ist für Ralph Fiennes eine Paraderolle: Seine nervöse Mimik, seine fahrigen Blicke, sein Gemurmel bilden das innere Drama so ab, wie eine Decke die Gestalt desjenigen nachzeichnet, der unter ihr verborgen liegt: im Einzelnen unkenntlich, im Ganzen überdeutlich.

In Rückblenden entfaltet sich Spiders Geschichte: Der Junge liebt seine Mutter, die traurig ihre Schönheit vor dem Herd dahinwelken lässt, während ihr Mann durch die Kneipen zieht und sie mit einem üblen, drallen Luder betrügt. Die Madonna und das Luder werden beide von der gleichen Schauspielerin (Miranda Richardson) gespielt. Man mag das für geradezu trivial freudianisch halten, doch Miranda Richardson spielt die zwei Medaillenseiten dieser erotischen Währung perfekt. Als Spiders Mutter die Affäre aufdeckt, wird sie von den beiden Ehebrechern erschlagen. Das Kind muss die Mörder nun decken. Bis endlich der Tag der Rache gekommen ist.

Psychologisch steuert der Film nicht viel zu dem Motivgebirge bei, das die Mutter-Vater-Kind-Triade schon aufgehäuft hat. Selten allerdings wurde so radikal aus der Perspektive des Erkrankten erzählt. Die Kamera und also auch der Zuschauer teilen den Blick Spiders. Was logischerweise eigentlich nicht funktionieren kann, weil Spider selbst der Angeschaute ist, funktioniert auf schizophrene Weise dennoch: Wenn die Kamera mit dem kleinen Jungen Spider und seinen Eltern zusammen am Tisch sitzt, und beobachtet, wie er seine Eltern beobachtet, entdeckt man des öfteren auch den erwachsenen Spider unter den Anwesenden, hinter einem Vorhang versteckt. Man wohnt also einer Kindheit bei, die sich weigert, Vergangenheit zu werden. Und die Topografie des Films, eindrücklich durch einen schmutzigen Industriekanal und einen mächtigen Gasspeicher markiert, ist Kulisse für beide Erzählzeiten. Während Spider, der mit seinem zeitlos unmodischen Anzug, seinen übereinander getragenen vier Oberhemden und seinem ständig mitgeschleppten Koffer ohnehin wie ein aus der Zeit Vertriebener wirkt, den Kanal entlang zockelt, wird der gleiche Ort unversehens zum Schauplatz einer kalten Liebesszene zwischen seinem Vater und seiner Geliebten. Wohlmöglich, so dämmert es einem da, hat sich Spider die ganze Geschichte nur eingebildet.

Aber was heißt "nur eingebildet"? Dieser für David Cronenbergs Verhältnisse ungewöhnlich stille Film ist eine Studie über die Plausibilität des Wahnsinns. Vermutlich ist Spider gefährlich, vermutlich wurde er viel zu früh aus der Anstalt entlassen. Der Zuschauer aber teilt Spiders Logik; seine Verschrobenheiten werden ihm bald zu naheliegenden Reaktionen, seine Schroffheiten zu nachvollziehbaren Notwehrhandlungen.

Cronenbergs Filme behandeln fast immer das Schicksal von Körpern in einer technoiden Umwelt; im Falle von "Spider" reizte den Regisseur der Körper als Spielball eines kindlichen Traumas und dessen logischer Fortentwicklung. Es ist die Geschichte einer enormen Verlangsamung, deren Tempo der Film bereits in der ersten Minute annimmt, als Spider zögernd und ganz zum Schluss aus dem Zug steigt. Ein Leben im Bann des Magnetismus, mit dem eine schwierige Kindheit jede Entwicklung verhindern kann. Dass Cronenberg der üblichen Versuchung nicht erlegen ist, den Wahnsinn à la Kuckucksnest zu romantisieren und zu glorifizieren, macht den Film zu einem fast schon heroischen Ereignis. An der Kinokasse danken wird man es ihm nicht.

Autor: Harald Jähner
Datum: 09.06.2004
Quelle: berlinonline.de
Bild
Dolarhyde
I'm the dragon
I'm the dragon
Benutzeravatar
 
Beiträge: 7975
Registriert: 10.02.06

Zurück zu Ralph - Archiv

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast